Schon mal vorab–> Langer Lauf = Langer Text!
“There was the first flip decision to do it, followed by the second, more serious decision to actually do it, and then the long third beginning, composed of weeks of shopping and packing and preparing to do it. […] At which point, at long last, there was the actual doing it, quickly followed by the grim realization of what it meant to do it, followed by the decision to quit doing it because doing it was absurd and pointless and ridiculously difficult and far more than I expected doing it would be and I was profoundly unprepared to do it.
And then there was the real live truly doing it.” (Cheryl Strayed, “Wild”)
Ich sitze im Zug in den Schwarzwald und lese diese Zeilen. Es sind die ersten Worte im Buch von Cheryl Strayed, die in den 90ern den Pacific Crest Trail (PCT) von der mexikanischen Grenze im Süden der USA bis hoch an die kanadische Grenze wandert. Ich lese den Abschnitt zwei Mal, drei Mal, vier Mal und fühle mich, wie Cheryl sich gefühlt haben muss – gleichzeitig völlig überfordert und wildentschlossen zu tun, was ich mir vorgenommen habe: den Neckarlauf von der Quelle in Villingen-Schwenningen bis zur Mündung in Mannheim zu finishen. 375,5 km in sieben Tagesetappen. Ein Ultramarathon jeden Tag. Okay, der PCT ist ein bisschen länger. Und schwieriger. Also wird’s am Neckar schon nicht so wild werden.
Ich bin nicht gut vorbereitet, etwa ein Drittel meiner Jahreskilometer werde ich beim Neckarlauf selbst erlaufen. Klug ist das nicht, dessen bin ich mir bewusst und somit muss ich gut auf mögliche Warnsignale meines Körpers achten. Die Vorbereitung auf meinen ersten Etappen-Ultra glich einer einzigen Unterbrechung. Ständig war ich krank. Erst Ende April ging es bergauf und ich konnte zum Glück sehr deutlich spüren, dass ich zu alter Stärke zurückfinde. Und so stelle ich mich am 4. Juni direkt neben das kleine Rinnsal, das der Neckar sein soll, und laufe zusammen mit 29 anderen Neckarläuferinnen und -läufern los, immer stromabwärts.
Etappe 1 – Villingen-Schwenningen nach Sulz-Mühlheim (58, 6 km)
Schön ist es hier im Schwarzwald, ich laufe etwa die Hälfte der Strecke zwischen vielen anderen Läuferinnen und Läufern, die Aussicht und besonders die Streckenabschnitte im Wald gefallen mir sehr. Nach etwa der Hälfte der der Strecke bin ich richtig schön im Flow und lasse die Gruppe hinter mir, ohne es so richtig zu merken. Erst viel später realisiere ich, dass ich alleine bin und mir niemand folgt. Ein mulmiges Gefühl kommt in mir auf. Bin ich zu schnell? Das ist hier erst die erste Etappe… Doch meine Beine wollen laufen und so folge ich ihnen einfach und komme zu meiner großen Überraschung als erste Frau ins Ziel. Unter sieben Stunden habe ich gebraucht, wie die schnellen männlichen Läufer, die schon im Ziel sitzen, lobend bemerken. Ich finde das eigentlich gar nicht so schnell, aber was weiß ich schon von Etappenläufen?
Etappe 2 – Sulz-Mühlheim nach Tübingen (48,1 km)
Etwas holprig starten wir in den Tag. Meine Beine werden aber schnell locker und ich fühle mich gut. Das liegt aber sicherlich auch etwas an der Euphorie des Etappensieges gestern. Abgesehen vom Sieg bei den Bundesjungendspielen 1993 über 800m habe ich noch nie irgendwas gewonnen. Und jetzt bin ich ja auch knackige dreißig Jahre älter. Dennoch vergeht die Zeit wie im Fluge, ich laufe einen großen Teil der Strecke mit Georg und Peter, die viel von ihren Ultralauf-Abenteuern erzählen. Unglaublich, was die beiden schon erlebt und geschafft haben. Und irgendwie werde ich so wieder erste Frau…
Etappe 3 – Tübingen nach Lichtenwald (50,9 km)
Es wird langsam etwas zäher. Ich brauche um die 20 km bis ich mich richtig locker fühle. Aber dann geht es eigentlich sehr gut. Komisch, ich hatte eigentlich erwartet, dass es spätestens am dritten Tag richtig schlimm wird. Aber wie eine kleine Dampflok laufe ich immer weiter, solange ich nur genug Kohlen(-hydrate) in mich hineinschaufle. Wieder komme ich als erste Neckarläuferin ins Ziel und frage mich, wie das sein kann.
Etappe 4 – Lichtenwald nach Besigheim (65,3 km)
Die Königsetappe quer durch Stuttgart steht an. Wir feiern Bergfest mitten in der Landeshauptstadt bei km 41 und hören lautstark „Don’t stop me know“ von Queen. Die Hälfte des Neckarlaufs ist schon geschafft – unfassbar! Ich fühle mich erstaunlicherweise genau, wie schon in den Tagen zuvor, etwas müde, aber nicht kaputt. Ich habe Blasen an den Füßen und brauche morgens immer einige Kilometer bis meine Muskeln locker werden, aber alles hält sich noch im Rahmen. Für das letzte Drittel der Etappe setzen Georg und ich uns wieder von der Gruppe ab. Irgendwie laufen wir den gleichen „Stiefel“ und ich darf wieder als Erste über die Ziellinie. Im Etappenziel wartet dann noch eine kleine MTG-Überraschung auf mich: Carolyn kommt zu Besuch und wir entspannen bei einem kühlen Blonden in der schönen Altstadt von Besigheim.
Etappe 5 – Besigheim nach Gundelsheim (46,3 km)
Die kürzeste Etappe wird auch die schwerste. Zumindest mental, denn als ich morgens loslaufe, merke ich ein starkes Ziehen im linken Oberschenkel oberhalb des Knies. Wir durchqueren Heilbronn und ich bin am Tiefpunkt angelangt. Das Ziehen wird heftiger und vor allem Gehen macht überhaupt keinen Spaß mehr. Also besser Laufen als Gehen. Paradox. Ich habe Angst, mich verletzt zu haben. Die Schmerzen kann ich gut aushalten, aber der Zweifel nagt an mir. Nur noch zwei Etappen bis Mannheim… Ich will das unbedingt schaffen. Im Ziel erneuter und mehr als willkommener MTG-Support! Carmen, Marc und Daniel warten auf mich! Ich freue mich so sehr die drei zu sehen! Und Carmens Zauberhände vollbringen das Unmögliche: sie massiert meinen Oberschenkel und der Schmerz verschwindet nahezu komplett!
Etappe 6 – Gundelsheim nach Neckargemünd (57,4 km)
Vorsichtig starte ich in den Tag. Wird der Oberschenkel halten? Carmen hat nicht nur massiert, sondern auch getapet. Fühlt sich gut an. Wir kommen meiner Heimat immer näher. Die Ortsschilder verweisen auf bekannte Namen und wir kommen in den Odenwald. Das motiviert unheimlich. Georg ist mein ständiger Begleiter geworden, wir haben uns richtig gut eingegroovt und laufen sehr konstant. So vergeht auch diese Etappe wie im Flug und ich bin sehr positiv gestimmt, dass mein Oberschenkel bis Mannheim durchhält. In Neckargemünd geht es in großer Hitze den Berg hinauf und ich bin super glücklich wieder als Erste ins Ziel kommen zu dürfen! Wirklich unglaublich das alles.
Etappe 7 – Neckargemünd nach Mannheim (48,9 km)
Die letzte Etappe des Neckarlaufs steht an. Wir bereiten uns auf große Hitze vor und starten runter an den Neckar und über Heidelberg nach Mannheim. Ich laufe mit Georg, Eva und Inge und versuche mich als Touri-Guide als wir an Schloss, alter Brücke, Seilbahn und Fernmeldeturm vorbeilaufen. Schließlich laufe ich heute nach Hause! Unterwegs werden wir mehrmals von Daniel und Marc auf Rädern abgepasst und angefeuert! Danke für den großartigen Support, Jungs! Nachdem es über die Kurpfalzbrücke und schließlich auf die Friesenheimer Insel geht, erreichen wir sie endlich: die Mündung des Neckars in den Rhein! Wir sind überglücklich, schießen einige Beweisfotos und… laufen weiter… denn das Ziel befindet sich leider nicht an der Mündung, sondern 6 km weiter in Sandhofen. In übelster Hitze kämpfen wir uns durch das Industriegebiet, das uns von Kuchen und kalten Getränken trennt. Es ist wirklich hart. Aber wir schaffen es schließlich und laufen zu viert Hand-in-Hand über die Ziellinie!
Wahnsinn! Ich habe den Neckarlauf wirklich geschafft und das sogar als erste Frau und fünfte insgesamt. Niemals hätte ich das erwartet! 375,5 km in 46 Stunden und 37 Minuten. Mit Pausen! 😉
Zu guter Letzt möchte ich dem Organisator und den vielen freiwilligen Helferinnen und Helfern danken, die den Neckarlauf überhaupt erst möglich machen! In Zeiten riesiger Großveranstaltungen, mit Merchandise, Social-Media-Hype und TV-Übertragung, finde ich es umso bemerkenswerter, wenn sich kleine Veranstaltungen und Vereine nicht unterkriegen lassen und ganz besondere Sportereignisse aus dem Boden stampfen! Weiter so an euch Organisatorinnen und Organisatoren! An Helferinnen und Helfer! Und an alle Sportlerinnen und Sportler: Ironman & Co sind schon okay, aber wenn jede und jeder zu der einen großen Sache im Jahr noch eine kleine Sache unterstützt und teilnimmt, dann können viele Veranstaltungen erhalten bleiben! Ich für meinen Teil fühle mich dort sowieso viel wohler!